Immer wieder befragte ich Zeitzeugen, ob es auf den Dörfern um Niewerle nicht Gerüchte über deportierte oder ermordete Juden gab. Und immer wieder hörte ich: ..... von den Gräueltaten haben wir erst nach dem Krieg erfahren.....
Und sollten Kinder damals doch mal etwas aufgeschnappt haben, konnte das denn stimmen? Warum sonst richtete man in Schniebinchen und in Jessen jüdische Ausbildungslager ein? (Quellen: "Jugend in Palästina - Briefe an die Eltern 1935 - 1938" von Ernst Loewy ; "Gestern sind wir gut hier angekommen" Beiträge zur jüdischen Geschichte in der NL; "Zur Geschichte der Juden in Forst" von Jürgen Meissner u. Dirk Wilking und "Zwei Leben in Deutschland" von Hans Rosenthal))
Bereits nach dem Ende des I. Weltkrieges gab es unter den europäischen Juden Bestrebungen in das Heilige Land auszuwandern. Zionistische Auffassungen und aufkommender Antisemitismus beförderten diese Idee auf beiden Seiten. Um die Menschen auf eine Auswanderung vorzubereiten, waren jedoch Ausbildung und Kenntnisse in Sprache und Kultur notwendig. Um diese Ausbildung zu ermöglichen wurden verschiedene Verbände gegründet, die sich besonders an Assimilierte wandten, um sie mit jüdischer Kultur, Sprache, handwerklichen Fähigkeiten und Landwirtschaft bekannt zu machen. Vor 1933 soll es in Europa ungefähr 80 Ausbildungsstätten gegeben haben.
Hechaluz = zionistische Aufbau-und Nachwuchsorganisation (deutsch: Pionier; zionistischer Weltverband, 1917 gegründet; Koordination der Auswanderung nach Palästina)
Bereits im Dezember 1922 hatte sich ein deutscher Tochter-Verband gegründet, deren Arbeit im 3. Reich dann besondere Bedeutung bekam.
Hachschara = praktische Vorbereitung der Jugendlichen auf die Auswanderung (Landwirtschaft, Unterricht) Alija = übersetzt: Aufstieg
Das heutige Israel war bis zur Gründung des Staates 1948 britisches Mandatsgebiet, das heißt, eine Auswanderung dorthin bedurfte eines sogenannten Zertifikates.
Als sich im Dritten Reich die Repressalien gegen Juden immer mehr verstärkten, kam den genannten Verbänden mehr und mehr Bedeutung zu. In der Niederlausitz gab es in den 1930er Jahren vier Ausbildungsstätten: das Landwerk Eichow bei Cottbus, Schniebinchen und Jessen im Kreis Sorau sowie die landwirtschaftliche Siedlung in Groß Gaglow bei Cottbus (gehörte nicht zur Hachschara). Groß Gaglow wurde um 1935 aufgelöst.
Um für eine Ausbildung ausgewählt zu werden, mussten die Jugendlichen Mitglied einer der verschiedenen zionistischen Organisationen sein, die Zustimmung der Eltern vorausgesetzt. Über die Ausbildungsstätten in Schniebinchen und Jessen gibt es Zeitzeugenberichte, ansonsten wenig Literatur.
Viele der Jugendlichen kamen aus Großstädten, wo sie besonderen Repressalien ausgesetzt waren. Hier in der Abgeschiedenheit der schönen Landschaft empfanden sie ihr zeitweiliges Zuhause als eine "glückselige Insel", manche jedoch waren vom straffen Arbeitsalltag nicht begeistert.
Schniebinchen
Zum Dorf Schniebinchen (s. Kapitel Dörfer des Kirchspiel Niewerle) gehörte ein 1.117 Morgen großes Gut. Das Gutshaus lag etwa 200 m südlich des Dorfes, auf dem Weg nach Jüritz. Einige Gebäude, teilweise bewohnt, existieren heute noch. Nach Einstellung des Agrarbetriebes, zu der auch eine Schnapsbrennerei gehört haben soll, stellte der letzte Gutsbesitzer auf Schniebinchen, der Apotheker Otto Kaesbach, hier pharmazeutische Erzeugnisse her, u. a. auch das von ihm erfundene Stärkungsmittel OKASA. Nach seiner Scheidung führte Martha Kaesbach, gemeinsam mit dem Verwalter Herrn v. Horn das Gut. Otto Kaesbach ging Ende der 1920er Jahre nach Berlin. Die zum Gutsbesitz gehörende Wassermühle (Jessener Mühle) verkaufte Kaesbach 1929 an die Familie Ernst und Friederike Lichting (später wohnhaft in Sommerfeld).
Als die ersten Jugendlichen hier eintrafen, war das Herrenhaus schon etwas in die Jahre gekommen. Jenny Aloni, die 1939 hier eintraf, schildert in ihren Erinnerungen erste Eindrücke: ... Pastellfarbene Feldstücke auf einer Bergkuppe und zwischen ihnen scheunenförmige Gebäude um die drei Seiten eines rechteckigen Hofes gelegt. An vierter Seite herabgekommenes Herrenhaus mit Putten, deren Flügel und Nasen abgebrochen sind und mit breiten Rissen im Mauerwerk, in deren dunkler Feuchtigkeit sich grünes Moos eingenistet hat. Vernachlässigter Garten vor dem Eingang. Wildes Queckengras neben verwilderten Rosenbüschen und Eberesche, die ohne Pflege überdauerten. Latten fehlen in dem Holzzaun wie Zähne in alten Gebissen. Spuren weißer Farbe blieben. Auf dem Zaun ein Papagei. Ein lebendiger Papagei. Er heißt Laura... Mit Diamantenbrosche am hochgeschlossenen Kleid einer Witwe blieb er, um früheren Reichtum zu bezeugen....... Papagei Laura rief im Vorbeigehen Jedem zu "Heil Hitler Schalom"....
Vermutlich auf der Suche nach einem Pächter gab Frau Kaesbach etwa 1933/34 den Zuschlag an den Jüdischen Jugendbund Habonim Noar Chaluzi (Bauleute). Die Pacht soll monatlich 180 RM betragen haben. Die offizielle Postanschrift lautete:
Jüdische Jugendhilfe Schniebinchen über Sommerfeld NL, Telefon: Niewerle Nr. 11
Hier gab es ca. 60 Ausbildungsplätze für Jugendliche ab 14 Jahre. Auf dem Stundenplan standen täglich von 8-11 Uhr praktische Arbeit im Hof/Feld/Garten und nachmittags fünf Stunden Unterricht in Hebräisch, jüdischer Geschichte/Literatur, Naturwissenschaften und Sport. Die Jugendhilfe nutzte etwa 80 Morgen Land, davon ca. 20 Morgen für Garten (Obst und Gemüse). Zur Einrichtung zählten auch Kühe, Ziegen, Pferde und Kleinvieh.
1935 kamen etwa 20 Jugendliche, die jeweils vier Wochen blieben, 1938 etwa 85, die eine mehrmonatige Ausbildung absolvierten. Die Kontakte der Einrichtung beschränkten sich auf einzelne jüdische Sommerfelder Familien und auf jene zur Zionistischen Vereinigung in Forst/L, die sich am 28.8.1938 auflöste.
Auch einige entlassene KZ-Häftlinge fanden hier Aufnahme. Heinz Friedländer, im Februar 1939 aus Buchenwald entlassen, lebte hier kurze Zeit mit seiner Schwester.
Im Jahr 1939 sollen hier 109 Jugendliche und Erwachsene tätig gewesen sein. Einer der damaligen Leiter von Schniebinchen war Dr. Alfred Cohn. Ludwig Kuttner und Fanny Bergas wurden dessen Nachfolger. Lotte Kaiser und Lotte Adam hatten die pädagogische Leitung. Ab April 1939 war Jenny Aloni, geb. Rosenbaum, Jugendleiterin, bevor auch sie im November nach Palästina auswanderte. Im Durchschnitt waren 60 % der Teilnehmer Jungen. Für Mädchen stand vor allem Hausarbeit, Kochen, Backen, Nähen und Stricken auf dem Plan.
Ernst Loewy, ein deutsch-jüdischer Publizist, der als 15-jähriger Krefelder Schüler in Schniebinchen weilte, berichtete in Briefen an seine Eltern, wie er im Dezember 1935 in dem kleinen Dorf ankam:
Gestern sind wir gut angekommen. Die Fahrt war todlangweilig. Von dreiviertel vier bis halb acht (ab Berlin). Alle drei Minuten hat der Zug gehalten, richtiger Bummelzug.
Schniebinchen ist größer, als ich gedacht habe, ca. 20 Höfe, eine Ziegelei und eine Wirtschaft. ....Abends gehen wir um halb zehn ins Bett, morgens stehen wir um halb sieben auf..... Schlafen tun wir in einem großen Saale, in Feldbetten. …Das Gut ist nach meinen Begriffen übrigens sehr groß. Außer uns sind hier noch ca. 20 junge Leute ..... Der Schlafraum ist sogar geheizt, elektrisch Licht haben wir und im Waschraum ist sogar fließendes Wasser. Brausen sogar und auch vorgewärmtes Wasser. Das Kaff liegt wunderschön, viel Wald. Eine Ziegelei ist neben uns (Ziegelei in Klein-Drehne), sogar sehr groß. Die Luft hier ist wundervoll......
Nun etwas zu meiner Gruppe, 28 Jungens und 14 Mädels, am meisten vertreten Berliner Großschnauzen.....
Ich will Euch über die Baulichkeiten schreiben. Wir haben hier einen Jungenschlafsaal, einen Mädelsschlafsaal, eine Küche, ein Buereau, eine Werkstatt, Baderaum und einen Tagesraum, weitere kleine Zimmer. Übrigens haben wir auch recht viel Freizeit.....
Zum 31.7.1941 soll diese jüdische Ausbildungsstätte geschlossen worden sein, schrieb Ernst Loewy.
Jessen - Jessener Mühle
Etwa 1,5 km östlich vom Dorf Schniebinchen, mitten im Wald, stand eine große Wassermühle. Sie gehörte einst zum Gut Kaesbach, danach der Sommerfelder Familie Lichting.
Jessen war eine von hohem Kieferwald umgebene weitere Haschara-Stätte, die dem jüdischen Pfadfinderverband Makkabi Hazair unterstand. Familie Lichting verpachtete die Mühle 1937 und zog selbst nach Sommerfeld. Erst während der russischen Besatzung, im Februar/März 1945, suchten Lichtings auch hier für einige Tage Asyl.
Ähnlich wie in Schniebinchen wurden die Jugendlichen auch hier ausgebildet. Aufgrund der örtlichen Nähe arbeiteten beide Jugendlager eng zusammen. Zum Nachbar-Lager sollen es nur 20 Minuten Fußweg durch den Wald gewesen sein.
Aber auch aus Jessen gibt es keine verlässlichen Zahlen, wieviele Jugendliche hier ausgebildet wurden. Im Durchschnitt könnten es etwa 60 gewesen sein.
Hans Rosenthal, bekannt durch seine TV-Show "Dalli, dalli", der ebenfalls hier war, erinnert sich an 40 Personen: Unser landwirtschaftliches Lager, an dem zwanzig Jungen und zwanzig Mädchen teilnahmen, hieß Jessen. Es war eine alte Mühle in einem gleichnamigen Dorf bei Sommerfeld in der NL..... In diesem landwirtschaftlichen Lager hatten wir Tomatenfelder, auf denen ich zum Pflücken eingeteilt war. Daneben gab es auch Spargelfelder. Insgesamt waren es über dreißig Morgen, die wir zu betreuen hatten. Ich lernte bald, wie man Spargel sticht.... Wir hatten sogar vier Kühe. Dann und wann mußte ich sie hüten, was auch am Morgen und zum Mittag gut ging. Aber um halb vier waren sie nicht mehr zu halten. Sie rannten einfach in ihren Stall zurück und mein Rufen und Drohen wurde von ihnen ignoriert...... Seiner Einschätzung nach, war er wohl kein begnadeter Bauer.
Rosenthal war 1940 nur kurze Zeit hier in der Mühle. Nach der Auflösung des Standortes kam er ins Landwerk Neuendorf, wo er als Zwangsarbeiter auf dem Friedhof Fürstenwalde arbeitete. Danach gelang es ihm unterzutauchen und den Krieg zu überleben.
1939 sollen Hans Wolfgang Cohn und Gertrud Weiß hier die Verantwortung getragen haben. Bis zum Jahr 1938 war das Leben hier kaum eingeschränkt, erinnern sich Zeitzeugen. Dina Cohen (früher Brunhilde Hoffmann) kam im September 1938 nach Jessen. Sie erinnerte sich: In der Nacht vom 28. auf den 29. Oktober 1938 wurden im Rahmen der "Polenausweisung"auch in Jessen Jugendliche und Erwachsene mit polnischer Staatsangehörigkeit verhaftet.... Tausende sollen so nach Polen abgeschoben worden sein. Das Deutsche Reich wollte einem Gesetz der polnischen Regierung zuvorkommen, welches vorsah, dass alle Staatsangehörigen, die länger als fünf Jahre im Ausland lebten, ausgebürgert werden. Die polnische Regierung befürchtete, dass viele ihrer in Deutschland/Österreich lebenden Landsleute wegen der Judenverfolgung nach Polen zurückkehren würden. Wolfgang Berger, damaliger Leiter von Jessen warnte nach diesem Ereignis alle Jugendlichen. Es könnte sein, dass auch sie kurzfristig fliehen müssen. Das Nötigste sollte jeder Einzelne bei der Hand haben. Dina Cohen: .... Wir haben Glück gehabt, denn der Bürgermeister von Jessen war sehr anständig und wir sind unbehelligt geblieben...
Wieviele junge Menschen insgesamt an beiden Standorten ausgebildet wurden, ist aufgrund der sehr unterschiedlichen Verweildauer nicht bekannt. Nach Abschluss ihrer Ausbildung bekam jeder Teilnehmer ein Zeugnis. Dieses war Voraussetzung um in Sorau einen Paß zu beantragen. Weiterhin mussten eine Unbedenklichkeitsbescheinigung vom Finanzamt und eine Genehmigung von der Oberfinanzdirektion, Abt. Devisen, eingeholt werden. Wenn auch noch der Antrag auf Mitnahme von Gepäck korrekt ausgefüllt worden war, erhielt der Antragsteller eine drei Monate gültige Ausreise-Bescheinigung. Erst dann konnte das britische Zertifikat beantragt werden. Ab März 1939 vergab die britische Mandatsregierung kaum noch diese Zertifikate, weshalb viele Juden auf illegalem Wege versuchten nach Palästina zu gelangen.
Eigentlich sollte die Schließung beider Lager am 10. November 1938, also einen Tag nach der Progromnacht, erfolgen, zumindest nach einem Antrag der Forster Gestapo-Stelle. Doch aus Berlin wurde dies nicht bestätigt und so konnte der Betrieb weitergehen.
Noch im Jahr 1940 wurde der Pachtvertrag für Schniebinchen um ein weiteres Jahr verlängert. Trotzdem kam für diesen Standort das Ende am 31.7.1941. Die verbliebenen Kinder und Jugendlichen wurden nach Neuendorf zur Zwangsarbeit verpflichtet. Von dort kamen viele nach Auschwitz.
Nach 1945 wurde hier ein Erholungsheim und Rehazentrum für polnische Kinder und Jugendliche aus Lodz eingerichtet.
Das jüdische Ausbildungslager in der Jessener Mühle soll erst 1943 geschlossen worden sein. Die verbliebenen Jugendlichen kamen in die Alija-Lager nach Eichow (bei Cottbus) und nach Neudorf bei Frankfurt.
In den 1960er Jahren sollen die baufälligen Gebäude abgerissen worden sein. 1998 gab es nur noch Fundamente und der Brunnen war zu erkennen. Alle bewirtschafteten Felder waren aufgeforstet worden. Selbst ehemalige Teilnehmer der Ausbildungsstätte konnten sich nach Jahrzehnten kaum noch orientieren.
2018 begleitete eine TV-Dokumentation die beiden Kinder Hans Rosenthals, Gerd und Birgit, auf den Spuren ihres Vaters. Beide suchten u.a. auch Jessen und das ehemalige Mühlengelände auf.
Die folgenden Aufnahmen auf dem Gelände der Jessener Mühle machte ich 2011.
Über diese Internetseite nahm im Sommer 2021 der Leiter des Landwerks Gut Neuendorf, Arnold Bischinger, mit mir Kontakt auf. Das Landwerk ist seit 2015 eine historische Stätte deutsch-jüdischer Begegnung (15518 Steinhöfel OT Neuendorf im Sande).
Hier existierte während des Dritten Reiches, genau genommen in der Zeit von 1932 – 1943, ein sogenanntes Hachschara-Landgut, wo Jugendliche über einige Monate in verschiedenen handwerklichen Tätigkeiten, in Hauswirtschaft und in Landwirtschaft ausgebildet wurden. Diese Jugendlichen überbrückten so die Wartezeit auf die Ausreise nach Palästina.
Im Rahmen seiner Nachforschungen stieß Bischinger auf ein Einzelschicksal, auf Jutta Baumwol aus Danzig. Er machte ihren heute in Israel lebenden Bruder Ytzak Baumwol ausfindig. Seitdem kommt es zu jährlichen Besuchen in Neuendorf. Hoch betagt weihte er hier ein Denkmal für seine Schwester ein.
Im Juni 2021 besuchte Ytzak Baumwol mit seinem Sohn erneut Neuendorf. Bei einem Abstecher nach Cottbus trafen mein Mann und ich uns zum Kaffee und Gedankenaustausch über Schniebinchen. Er wollte insbesondere Näheres zu den Lebensumständen in dem Dorf wissen, da die Post der Schwester an seine Familie kontrolliert bzw. die Anzahl der Worte begrenzt war. Ich konnte ihm leider auch nur mein von Zeitzeugen erworbenes Wissen weitergeben.
Ytzak Baumwol und seine Eltern konnten noch rechtzeitig das Deutsche Reich verlassen, Jutta gelang es nicht mehr. Sie verabschiedete sich in Danzig von ihrer Familie und kehrte nach Schniebinchen zurück, da sie erst etwas später, gemeinsam mit ihrer Hachschara-Gruppe, auswandern wollte. Hier ihre erschütternde Geschichte (Fotos mit freundlicher Genehmigung von Ytzak Baumwol, Tel Aviv)